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Auf der Suche nach dem verborgenen Christus

Eine Gemeindefahrt in die Diaspora
28. April 2025
Emblem Kulturkirche u. Kulturhauptstadt 2025

AUF DER SUCHE NACH DEM VERBORGENEN CHRISTUS

Eine Gemeindefahrt in die Diaspora
Auch 35 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland ein Land mit zwei ganz unterschiedlichen Teilen: West und Ost. Auch die Kirchen sind davon betroffen. Im Osten, wo über 40 Jahre lang der Sozialismus sowjetischer Prägung herrschte, sind die Christen eine kleine Minderheit (vom Eichsfeld und den sorbischen Gebieten abgesehen), während es im Westen noch Gegenden gibt, wo eine Mehrheit der Bevölkerung zur katholischen oder zur evangelischen Kirche gehört. So auch in Bocholt im Münsterland, wo wir drei Priester leben: Bernd Galluschke, Wilfried Hagemann und Matthias Hembrock.
Die Entwicklung der Kirche ist aber klar rückläufig. Viele Menschen verlassen sie, weil sie den Glauben verloren haben oder weil sie die Institution kritisieren, vor allem wegen der Missbrauchsfälle. Auch Westdeutschland wird in Zukunft Diasporagebiet sein, wo die Christen eine Minderheit sind. Deshalb haben wir, um zu lernen, mit 38 Personen unserer Pfarrei eine Fahrt nach Chemnitz in Ostdeutschland gemacht, wo Benno Schäffel als Pfarrer tätig ist.
Chemnitz ist im Jahr 2025 Kulturhauptstadt Europas. Das Motto lautet (in englischer Sprache): „C— the unseen“ = „Entdecke das Ungesehene bzw. den Ungesehenen“. Dabei steht der Buchstabe C für die Stadt Chemnitz. Diese Stadt hat in Deutschland keinen guten Ruf. Früher war es eine Industriestadt und zu Zeiten der DDR eine Hochburg des Sozialismus. Einige Jahre lang war sie umbenannt in „Karl-Marx-Stadt“ und noch heute prägt eine monumentale Skulptur des Kopfes von Karl Marx das Stadtbild.
Im Jahr 2018 haben Neo-Nazis beim Stadtfest ausländische Mitbürger angegriffen. Eine Person wurde getötet und zwei durch Messerstiche schwer verletzt. Ein paar Tage später wurde als Gegendemonstration ein Konzert mit dem Titel „Wir sind mehr“ veranstaltet. Die Bürgerschaft von Chemnitz setzt sich für eine weltoffene Stadt im Herzen Europas ein. Dafür ist die Erwählung zur Kulturhauptstadt eine große Chance.
Auch die Kirchen bringen sich in das Projekt Kulturhauptstadt ein: Katholische Gemeinden, lutherische Gemeinden, freikirchliche Gemeinden, Ordensgemeinschaften und kirchliche Werke haben das Netzwerk Kulturkirche 2025 gebildet. Hier waren wir zu Gast und konnten eine lebendige Diasporakirche erleben. Einige Merkmale haben uns besonders beeindruckt:
In ökumenischer Verbundenheit den Glauben leben
Die Christen aller Konfessionen sind in Chemnitz ca. 14 Prozent der Bevölkerung. Sie leben also inmitten von Nicht-Getauften. Kirche und Glaube kommen im normalen Leben der meisten Menschen nicht vor. Deshalb spüren die Christen einen starken Zusammenhalt untereinander. Sie kommen gerne am Sonntag zusammen und sind auch in der Ökumene selbstverständlich mit den Christen anderer Konfession verbunden.
Wir haben es mehrmals erlebt: Bei organisierten Begegnungen waren evangelische Pfarrer ganz selbstverständlich dabei. Beim Besuch einer Gedenkstätte an die Gräuel des sozialistischen Regimes gab sich der Leiter sofort als engagierter evangelischer Christ zu erkennen. Das Netzwerk Kulturkirche 2025 ist durch und durch ökumenisch geprägt.

In der Kraft des Glaubens den Armen dienen
Wir haben sehr deutlich erlebt, dass die Christen einfach dienen wollen, ohne etwas für sich zu erwarten (z.B. ein gutes Image). Im Stadtteil nahe dem Bahnhof gibt es viele Familien, die ärmer sind als der Durchschnitt der Bevölkerung. Die Schwestern von Mutter Theresa geben täglich in ihrem Haus vielen eine warme Mahlzeit. Die Salesianer Don Boscos betreiben ein Kinder- und Jugendzentrum, wo junge Menschen willkommen sind und unterstützt werden. Die Kirchen führen ein Projekt durch, welches alten Menschen, die häufig einsam sind, Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenbringt. Demographisch zählt Chemnitz zu den ältesten Städten Europas. Das Projekt möchte zu einer Perspektive einladen, das Alter in seinem Wert und seiner Würde wahrzunehmen.

Christen in der Zerstreuung
Wir haben auch die Pfarrei von Pfarrer Andreas Schumann in Annaberg-Buchholz besucht. Sie grenzt an die Tschechische Republik und ist ca. 80 km weit von West nach Ost ausgedehnt. Auf 900 km2 leben 1.800 Katholiken. Sie können den Glauben nur bewahren, wenn sie in der Familie zusammenhalten. Es ist äußerst mühsam, sich zu versammeln und Gemeinde zu bilden. Wenn demnächst der Pfarrer in den Ruhestand geht, ist nicht sicher, ob ein neuer kommt. Dann müssen die Katholiken aus eigener Kraft Kirche sein. Sie gehen sehr zuversichtlich mit dieser Herausforderung um.

Christus, der Ungesehene
Die Christen fassen das Motto der Kulturhauptstadt noch weiter. Das C verstehen sie auch als Hinweis auf Christus, der von fast niemandem gesehen wird, obwohl er da ist. Deshalb haben sie ein eigenes Logo gefunden, welches das ausdrückt: Ein Engel, der aus den zwei Hälften einer gebrochenen Hostie gebildet wird. Die Bruchkanten sind nicht geglättet. Sie sind der Berührungspunkt mit der gebrochenen Wirklichkeit der Welt. Dahinein schenkt sich Christus.
Für uns und unsere Leute war es sehr inspirierend, die Kirche in Chemnitz zu erleben. In Zukunft wird die Kirche in ganz Deutschland eine kleine Minderheit sein. Aber auch in einer Diasporasituation können wir den Menschen dienen und Christus bezeugen.

Matthias Hembrock, im April 2025